Krieg und Frieden … und Sport!

Auf diesen vier Seiten befinden sich Auszüge aus David Dushmans Erinnerungen an sein bewegtes und reiches Leben.
Dushmans Geschichte ist ein wahres Epos. Aus meiner Sicht nicht weniger bedeutsam oder lehrreich als beispielsweise der berühmte Roman „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi. Auch Dushmans Leben ist gezeichnet durch das Wechselspiel kriegerischer mit friedlichen Zeiten. Was sich aber wie ein roter Faden stets in all den Geschehnissen ausmachen lässt, ist der Sport. Und so ergab sich der Titel für die hier vorgelegten autobiographischen Aufzeichnungen fast schon wie von selbst: „Krieg und Frieden ... und Sport!“
„Weißt du, bis zum heutigen Tag habe ich oft Träume: viele verschiedene, sehr lebhaft, mit ziemlich vielen Einzelheiten“, sagte Dushman einmal zu mir. „Mit dabei sind bruchstückhafte Bilder aus meiner frühen Kindheit, von Mama und Papa, an Freunde und Rivalen beim Sport, an die Momente sportlicher Niederlagen und Triumphe. Aber nie – und wirklich niemals – träume ich vom Krieg!“ Bleibt zu hoffen, dass er auch weiterhin nicht davon träumen wird – überhaupt niemand von uns ...
Das Leben David Dushmans beweist ohnehin, dass die wichtigsten Siege des Menschen nicht die sind, die auf dem Schlachtfeld errungen werden, sondern durch ein konsequentes Überwinden seiner selbst. Lassen Sie uns daran immer wieder denken und erinnern!
Olga Kotlytska, Biografin
David Dushman war bereits eine Persönlichkeit im Fechtsport, als ich ihm das erste Mal bei den Junioren-Weltmeisterschaften in Minsk begegnete. Es war meine erste Reise mit der damaligen westdeutschen Junioren-Fechtmannschaft in die ehemalige Sowjetunion, mitten im Kalten Krieg. Die Begegnung mit David Dushman hat mich völlig überrascht und berührt mich bis heute. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nur, dass er sowjetische Fecht-Ikone, Kriegsveteran und russischer Jude war. Anstatt einer zumindest distanzierten Haltung, die ich angesichts der Gegebenheiten eigentlich erwartete, kam David Dushman vollkommen unbefangen auf mich zu und reichte mir ohne Zögern oder Vorurteil seine Hand in Freundschaft. Ein Handschlag mag simpel erscheinen. Aber die Geste beeindruckte mich sehr und diesen Ausdruck seiner tiefen Menschlichkeit werde ich nie vergessen.
Je mehr ich im Laufe der Zeit von seinem dramatischen Leben erfuhr, umso größer wurde meine Achtung und Wertschätzung für David Dushman. Er erlebte die Greuel des zweiten Weltkriegs als Soldat der Roten Armee. Bei der Befreiung von Auschwitz war er der Erste, der die Stacheldrahtzäune des Konzentrationslagers mit dem Panzer niederwalzte. Als Jude in der Sowjetunion war er dennoch auch antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Trotzdem ist bei jedem persönlichen Treffen mit David Dushman von Verbitterung oder Feindseligkeit keine Spur.
Sein einzigartiger Lebensweg gibt einen faszinierenden Einblick in die Höhen und Tiefen eines bewegten Jahrhunderts europäischer Zeitgeschichte. Aus diesem Grund ist diese Biographie von David Dushman weit mehr als die Geschichte eines herausragenden Sportlers. Es ist die Geschichte eines Mannes von Ehre. Er lebte und lebt stets die menschlichen Werte von Respekt, Toleranz und Solidarität mit Überzeugung. Genau diese Werte finden sich auch im olympischen Sport wieder. Es sind eben diese gemeinsamen menschlichen Werte, die den universellen Reiz des Sports ausmachen. Durch den Sport bauen wir Brücken zu unseren Mitmenschen, er verbindet Völker und Kulturen. David Dushmans Lebensweg ist ein herausragender Beleg für diese verbindende Kraft des Sports.
Ich bin dankbar, ihn einen Freund nennen zu dürfen. Zuletzt trafen wir uns, als er mich beim Internationalen Olympischen Komitee in Lausanne besuchte. Selbst nach den vielen Jahren, die seit unserem ersten Treffen vergangen sind, waren seine Begeisterung für das Fechten und seine Lebensfreude ungebrochen. Ich freue mich bereits jetzt auf ein Wiedersehen mit David Dushman, spätestens zu seinem 100. Geburtstag, um sein außergewöhnliches Leben und unsere Freundschaft zu feiern.
Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees
Der erste Tag des Krieges
Das einzige Bild von mir, das im Krieg aufgenommen wurde
Daran erinnere ich mich so deutlich, als ob es gestern gewesen wäre. Im Gorki-Freizeitpark fanden gerade die gesamtsowjetischen Jugendmeisterschaften im Fechten statt. Auf dem Höhepunkt der Fechtkämpfe eröffnete uns die ergriffene Stimme Molotows* im Radio den feindlichen Überfall – und auf einen Schlag hörte das Turnier auf. Ich sprang aufs Motorrad (zu dieser Zeit brannte ich für den Motorradsport und während meiner Rekrutenausbildung arbeitete ich als Zusteller der Einberufungsbefehle für die Armee) – und raste auf dem mir geläufigen Weg ins Wehrkreiskommando von Baumanskij*.
Da stand schon eine Schlange mit Freiwilligen. Als ich mich dort anstellte, hörte ich es aus der Wehrkommandantur kommen: „Du – Champion von Moskau, an die Front schicken wir dich nicht, du gehst ins Institut und studierst!“ In welches Institut? Und wohin? Etwa jetzt?! Ich war mir, wie wir alle, sicher, dass der Krieg sowieso gar nicht wirklich beginnen und damit schnell wieder vorbei sein würde, dass wir gar nicht erst zum Kämpfen kommen würden … Um ehrlich zu sein, habe ich auch nicht über den Krieg nachgedacht. Was für ein Krieg denn schon?! Wir als die Verbündeten Deutschlands! Und wenn er nun doch ausbrechen sollte, der Krieg, so waren wir uns jedenfalls alle sicher, dass
„Auf feindlichem Boden von uns
Wird der Feind vertrieben
Fast ohne Blut,
Mit mächtigen Hieben!“*
Wir glaubten, was man uns von Kindesbeinen an eingebläut hatte: dass es auf unserem Territorium keinen Krieg geben konnte. Und so traf uns der Kriegsausbruch voll und ganz überraschend. Am 22. Juni sah ich es noch als Skandal. Am 2. Juli war ich bereits Soldat … Ich war damals 18 Jahre alt.
Das Begräbnis des Teufels mit dem Schnurrbart
An den Tag von Stalins Beerdigung erinnere ich mich mein Leben lang. Ich war mir – so wie Millionen anderer Sowjetbürger auch – sicher, dass ihn an den ungeheuerlichen Repressalien keine Schuld traf. Dass das alles irgendwie hinter seinem Rücken geschehen war und dass die Übeltäter für ihre Verbrechen hätten bezahlen müssen, hätte der „Vater der Völker“ nur die Wahrheit gekannt. Aber wie auch hätte man denn schon zu ihm durchdringen sollen? Wir kleinen Leute und er – der Große Führer!
Stellt euch mal vor, was für ein gutgläubiger Idiot ich damals gewesen bin: dieser schnurrbärtige Teufel verhaftet und tötet meinen Vater und ich brülle während eines Angriffes an der Front: „Für die Heimat, für Stalin!“
Ich erinnere mich, was ich an dem Tag erlebte: Beim Begräbniszug rissen mir in der Menge alle Knöpfe ab. Damit kam ich noch gut weg, denn man muss wissen, dass an diesem Tag in der Masse viele Menschen sogar ihr Leben verloren – womit es der alte Bösewicht also auch noch im Tode schaffte, diejenigen mit ins Grab zu nehmen, die ihn vergötterten …
Ein Einsehen darin, wer Jossif Stalin in Wirklichkeit gewesen war, begann dann nach der historischen Rede Chruschtschows* um sich zu greifen. Und wissen Sie, irgendwie glaubten ihm auch alle auf der Stelle. Die Porträts verschwanden allmählich und die tägliche Propaganda über den „Vater der Völker“ hörte auf.
Und nachdem einige Zeit nach der Beerdigung verstrichen war und dem Land dennoch nichts Katastrophales widerfuhr, fand sich ziemlich schnell eine Antwort auf die Frage: „Wenn nicht Stalin, wer dann?!“ Fast sah es so aus, als ob ein Schleier über den Augen eines ganzen Millionen-Volkes gelegen hatte. Es erschien dann zum Erstaunen leicht, der einfachen Wahrheit Glauben zu schenken, dass eben gerade der „Führer der Völker“ zugleich auch deren größter Übeltäter gewesen war.
Ziemlich bald nach Stalins Tod (ungefähr ein Jahr danach) rief man meine Mutter und mich in die Militärstaatsanwaltschaft. Dort entschuldigte man sich höflich bei uns mit den Worten: „Ihr Vater und Ehemann war ein ehrenhafter Mensch, es ist ein furchtbarer Fehler passiert.“
Als Wiedergutmachung boten sie meiner Mutter ein Dreimonatsgehalt meines Vaters an. Natürlich habe ich ihr nicht erlaubt, das Geld zu nehmen. Kann man denn etwa mit Geld, das man im Tausch für die gebrochenen Schicksale seiner Landsleute erhält, so mir nichts dir nichts einfach losgehen und Wein kaufen?!
Lieber Gott – wie viel Kummer nur hat Stalin den Menschen bereitet …
Die Damenmannschaft des Spartakverbandes, mit mir als Sportler und
Trainer. Ins Ausland reisen durfte ich aber nicht, denn ich war ja ein
„Versehrter der fünften Spalte“ (d.h. Jude) und ganz nebenbei noch der „Sohn
eines Volksfeindes“
Meine Valentina
Bei mir in der Sportschule herrschte eine ganz bestimmte Ordnung: Jeder Trainer hatte seine Zuständigkeit. Die Abgrenzung der Aufgaben untereinander war ziemlich streng. Einige der Trainer kümmerten sich auch um die Anwerbung von Nachwuchs, indem sie nach vielversprechenden Kindern und Jugendlichen Ausschau hielten: Recruiting, wie man heute dazu sagt.
Die Neuzugänge trainierten dann einen Monat lang in einer Basisgruppe, wo sie allgemeine Fertigkeiten beigebracht bekamen. Danach wählten sich die Trainer unter ihnen ihre Schüler aus.
Genau so wurde auch ich auf die neunjährige Valja aufmerksam. Als ich in ihre grauen Augen sah, war mir auf einen Schlag klar, dass es sich bei ihr um eine echte Siegerin handelte. Eine, wie sie nur einmal in hundert Jahren vorkommt! „Das Mädchen trainiere ich“, versprach ich damals. Dieser Verpflichtung kam ich für insgesamt 24 Jahre nach.
Valentina Sidorowa stammte aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Der Vater war früh gestorben. Die Mutter blieb allein mit Sohn und Tochter und hatte ihre liebe Mühe, mit den beiden Kindern über die Runden zu kommen. Doch ich konnte ihr helfen, denn für talentierte Kinder stellte man uns Lebensmittelgutscheine zur Verfügung. Die Kinder „verarbeiteten“ sie auch, denn bei mir im Training gaben sie immer hundert Prozent. Meine Schüler wussten ganz genau: Ich konnte Dushman für die einen sein, aber auch Duschmán* für die anderen. Längst nicht alle hielten das Tempo und den Rhythmus durch und viele hörten mit dem Training wieder auf. Valjas Gutscheine waren mehr wert als ihre Mutter verdiente.
Valentina war von Natur aus sportlich sehr begabt. Trotzdem fiel ihr die Hetzerei am Anfang eher schwer und so kam sie eines Tages an und teilte mir ganz entschlossen mit: „Ich werde nicht weitermachen mit dem Training!“ Und ich habe ihr da nur ganz ruhig geantwortet: „Gut, wenn du nicht willst, geh. Ich werde dich nicht aufhalten.“ Aber schon am nächsten Tag kam sie mit verweinten Augen wieder. Die Mutter hatte verlangt, dass sie weitermachen sollte.
Ach, was haben wir nicht alles zusammen erlebt! Ein ganzes Buch würde nicht ausreichen für all die Erinnerungen. Es sind viele unterschiedliche Geschichten dabei – traurige, lustige, lehrreiche, kuriose… Wie beispielsweise folgende Begebenheit bei der Weltmeisterschaft der Junioren 1973 in Argentinien, die Valja auch gewann:
Gerade nehme ich die Glückwünsche der Kollegen entgegen, da höre ich plötzlich, wie man Valja zur Doping-Kontrolle ausruft. Also renne ich durch die riesengroße Halle, um sie zu suchen, kann sie aber nirgends finden. Schlussendlich stöbere ich sie dann in der Garderobe auf, wo sie zusammen mit den anderen Mädchen beim Konjak-Trinken sitzt. Man stelle sich das vor! Was sollte ich nun machen?!
Ich rannte in die technische Direktion und sagte: „Valentina Sidorowa wurde ganz dringend in die Botschaft bestellt. Der Wagen wartet schon. Sie kann die Probe entweder jetzt gleich abgeben oder erst nach ihrer Rückkehr.“ Da ließ man sie sofort ihre Probe abgeben, ohne die vorgesehene Reihenfolge einzuhalten. Das war unser Glück, denn der Konjak war noch nicht in Valjas Blut übergegangen. Nach Bekanntgabe ihrer Kontrollergebnisse musste ich mich noch eine ganze Weile von dem durchgemachten Stress erholen. Und sie? Nun, meine liebe Walentina schlief die ganze Nacht lang seelenruhig und mit reinem Gewissen, natürlich. Denn sie hatte ja auch nichts getan, nicht wahr?
Im Verlauf ihrer Sportler-Karriere siegte Valentina oftmals nicht wegen, sondern eher trotz der Begleitumstände. Denn mit mir als Trainer hatte man es nicht leicht. Nicht nur, dass ich streng war und ziemlich anspruchsvoll, sondern als Jude und „Sohn eines Volksfeindes“ durfte ich ja auch das Land nicht verlassen.
Deshalb fuhren meine Schüler oft zu den Wettkämpfen und ich konnte sie dabei nicht begleiten. Ohne jede Angabe von Gründen. Das war abscheulich und demütigend! Viele wurden dadurch in ihren sportlichen Leistungen beeinträchtigt. Denn die Abwesenheit des Trainers ist selbst für die besten Sportler ein ziemlich negativer Umstand, der oftmals über den Ausgang eines Turniers bestimmt.
Deswegen hatte es Valja immer schwerer als die anderen. Sie fuhr auf alle internationalen Wettkämpfe fast ausschließlich ohne mich, sie gewann trotzdem! Sie war einfach extrem willensstark und zielstrebig. Und für mich ist sie mein größter Erfolg als Trainer, mein allergrößter Stolz – bis zum heutigen Tage …
In einer Sporthalle in der Dachauerstraße in München habe ich 20 Jahre lang
als Trainer gearbeitet
Die Erinnerungen „Krieg und Frieden ... und Sport!“ von David Dushman, aufgezeichnet von Olga Kotlytska. Das Buch kann per E-Mail bestellt werden: info@beiunsinbayern.de